Das Schicksal der Berliner Juden während der Nazizeit

Am 30. Januar 1933, dem Tag, an dem Hitler die Macht über­geben wurde, lebten in Deutsch­land etwa 500.000 Juden – 160.000 von ihnen fielen dem Nazi-Terror zum Opfer.

Dieser Terror setzte früh ein. Er begann mit dem Boykott jüdi­scher Geschäfte – „Kauft nicht bei Juden“ (1. April 1933) -, wurde fort­ge­setzt auf dem „Reichs­par­teitag“ der Nazis am 15. September 1935, als die Nürn­berger Gesetze verkündet wurden – darunter das berüch­tigte „Gesetz zum Schutze des deut­schen Blutes und der deut­schen Ehre“ -, und gipfelte (vorläufig) in der Pogrom­nacht vom 9. November 1938, als in Deutsch­land 7.500 jüdi­sche Geschäfte und Kauf­häuser demo­liert, 190 Synagogen in Brand gesetzt und 25.000 jüdi­sche Bürger verhaftet, miss­han­delt oder umge­bracht wurden.

Das alles aber war nur Vorspiel. Zu jener Zeit hofften die Nazis noch, die jüdi­schen Mitbürger vertreiben zu können – aller­dings nicht, ohne sie zuvor bis auf den letzten Pfennig ausge­raubt zu haben. Eine Politik, die Folgen hatte. So flohen bereits 1937 – noch vor der Pogrom­nacht vom 9. November 1938 – 23.000 Juden aus Deutsch­land, 1938 folgten 33.000, 1939 75.000 Menschen. 1940 wurde nur noch 15.000 Juden die Ausreise gestattet, 1941 – dem letzten Jahr, in dem eine legale Ausreise möglich war – 8.000.

In Berlin lebten 1933 etwa 170.000 Juden – Anfang 1940 waren es noch 80.000. Nach dem Beginn der Depor­ta­tionen dezi­mierte sich diese Zahl dann immer mehr. Im März 1943 wurden nur noch 27.250 Juden gezählt, im April 1943 18.300, im Juni 1943 6.800.

In der deut­schen Reichs­haupt­stadt wurden die jüdi­schen Menschen mit großer Erbar­mungs­lo­sig­keit gejagt. Hier hatte die Nazis deren poli­ti­sche, ökono­mi­sche, künst­le­ri­sche, gesell­schaft­liche und physi­sche Präsenz schon immer beson­ders gestört. Mit dem Beginn der Depor­ta­tionen im Jahre 1941 flüch­teten dennoch viele Juden aus dem gesamten deut­schen Reichs­ge­biet nach Berlin. Inmitten von vier Millionen Menschen und dutzenden deut­lich vonein­ander abge­grenzten Wohn­ge­bieten, Geschäfts- und Indus­trie­vier­teln, Parks und Stadt­wäl­dern hofften sie leichter unter­tau­chen zu können als in einer Klein­stadt. Und natür­lich waren diese „U‑Boote“ in der offi­zi­ellen Statistik der Nazis, die die Stadt am 16. Juni 1943 wider besseres Wissen für „juden­rein“ erklärten, nicht erfasst.

Nachdem den Juden jede Ausreise verboten war, konnten die Depor­ta­tionen rasch vor sich gehen. Und so gingen in ganz Deutsch­land und in allen von den Deut­schen besetzten Gebieten Monat für Monat tausende Menschen auf Trans­port – Männer und Frauen, Greise und Kinder. Bereits im Früh­jahr 1942 war die deut­sche jüdi­sche Bevöl­ke­rung auf ein Viertel ihrer ursprüng­li­chen Zahl redu­ziert. Und dieser Prozess wäre sicher noch rascher verlaufen, hätte die deut­sche Wehr­macht nicht darauf bestanden, dass die in kriegs­wich­tigen Firmen beschäf­tigten „Rüstungs­juden“ so lange an ihrem Arbeits­platz verblieben, bis Ersatz gefunden war. Der „Ersatz“ fand sich in den nach Deutsch­land verschleppten Zwangs­ar­bei­tern aus den von der Wehr­macht besetzten Gebieten.

Die Berliner Juden wurden in 63 so genannten „Ost-Trans­porten“ und 117 „Alters­trans­porten“ größ­ten­teils direkt in die Todes­fa­brik Ausch­witz (35.738 Menschen) oder erst einmal in das KZ There­si­en­stadt (etwa 15.000 Menschen) und andere Lager depor­tiert. Insge­samt fielen 55.696 von ihnen der Nazi-Mord­ma­schi­nerie zum Opfer. Ein Schicksal, das sie mit 6 Millionen anderen euro­päi­schen Juden teilten.

Und diese Mord­ma­schi­nerie funk­tio­nierte bis zum Schluss. Der letzte Zug von Berlin nach Ausch­witz ging am 5. Januar 1945 ab, der letzte Trans­port nach There­si­en­stadt (117 Depor­tierte) am 27. März 1945. Die Maschi­nerie konnte funk­tio­nieren, weil es unter der nicht­jü­di­schen Bevöl­ke­rung keinerlei ernst­haften Wider­stand gegen diesen Massen­mord gab. Die beliebte Entschul­di­gung – nach dem Krieg öfter gebraucht -, man hätte von all diesen Morden nichts gewusst, darf als Schutz­be­haup­tung aus schlechtem Gewissen gewertet werden. Wenn sicher auch nur wenige Menschen wussten, was wirk­lich in den Lagern geschah – wie ihre jüdi­schen Mitbürger drang­sa­liert, wie sie immer mehr entrechtet und schließ­lich abtrans­por­tiert wurden, konnte jeder sehen. Die Wahr­heit ist, dass die Mehr­heit der nicht­jü­di­schen Bevöl­ke­rung dem Schicksal der Juden eher gleich­gültig gegen­über­stand und andere lieber wegsahen, um sich nicht selbst zu gefährden.

Nur 6.500 Berliner Juden über­lebten die Nazi-Diktatur: Männer und Frauen, die durch ihre „privi­le­gierte Mischehe“ geschützt waren, Mitar­beiter des Jüdi­schen Kran­ken­hauses im Stadt­teil Wedding (dort war bis zum Ende des Krieges die Patho­logie als letztes Sammel­lager in Betrieb) und des Jüdi­schen Fried­hofs Weißensee und etwa 1.200 „U‑Boote“. Keiner dieser „Unter­ge­tauchten“ jedoch hätte über­leben können, wenn er nicht die Hilfe mindes­tens eines Nicht­juden gehabt hätte; Menschen, die ihr eigenes Leben riskierten, um anderen zu helfen. Nur etwa 2.000 der fast 60.000 in die Nazi-KZ depor­tierten Berliner Juden kamen aus den Lagern zurück.

Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Klaus Kordon aus seinem Buch „Julians Bruder“