Reichsvereinigung der Juden

Postkarte einer Mutter aus dem KZ Theresienstadt an ihren Sohn

4. Juli 1939

In der Kant­straße 158, gleich neben der Fasa­nen­straße, stand ein Haus, das aus dem Bewusst­sein der Menschen heute völlig verschwunden ist. Hier wurden bis 1943 Details der Depor­ta­tionen zigtau­sender Juden aus dem ganzen Deut­schen Reich orga­ni­siert. Dies jedoch nicht von Nazis, sondern von Juden selbst. Begonnen hatte es schon zehn Jahre zuvor.

Bis 1933 waren Juden nicht unbe­dingt orga­ni­siert. Zwar gab es jüdi­sche Sport- und Kultur­ver­eine und selbst­ver­ständ­lich die reli­giösen Gemeinden. Überall dort war man aber frei­willig Mitglied, aufgrund des Glau­bens oder der persön­li­chen Inter­essen. Das sollte sich jedoch nach der Macht­über­gabe an die Nazis ändern.

Im Spät­sommer 1933 hatten fast alle bedeu­tenden jüdi­schen Orga­ni­sa­tionen sowie alle größeren Kultus­ge­meinden eine landes­weite gemein­same Inter­es­sen­ver­tre­tung gegründet, die „Reichs­ver­tre­tung der Deut­schen Juden“. Ihr Präsi­dent wurde der Berliner Rabbiner Leo Baeck. Ihre Ziele waren die Unter­stüt­zung des Zusam­men­halts, die jüdi­sche Selbst­hilfe und – in realis­ti­scher Einschät­zung der kommenden Verhält­nisse – die Vorbe­rei­tung der Emigra­tion nach Paläs­tina. Es folgten mehrere erzwun­gene Namens­wechsel („Reichs­ver­tre­tung …“, „Reichs­ver­band …“, „Reichs­ver­ei­ni­gung der Juden in Deutsch­land“).

1938 wurde für alle Glau­bens­juden die Mitglied­schaft in dem Verband Pflicht. Er verwal­tete die Immo­bi­lien derje­nigen Gemeinden, die aufgrund der Auswan­de­rung dazu nicht mehr selbst in der Lage waren. Wer in die Emigra­tion ging, musste einen Teil seines Vermö­gens an den Verband abgeben, der damit verarmte Mitglieder unter­stützte. Da Juden in vielen Berufen nicht mehr arbeiten durften, waren viele auf diese Unter­stüt­zung ange­wiesen. Die Reichs­ver­ei­ni­gung orga­ni­sierte auch Schul­un­ter­richt, da jüdi­sche Kinder keine staat­li­chen Schulen mehr besu­chen durften. Sie orga­ni­sierte Klei­der­kam­mern und brachte obdach­lose Mitglieder in soge­nannten „Juden­häu­sern“ unter.

Am 4. Juli 1939 dann wurde aus der als Inter­es­sen­ver­tre­tung der Juden gegrün­deten Orga­ni­sa­tion ein Werk­zeug der Nazis. Reichs­si­cher­heits­hauptamt (RSHA) und Gestapo über­nahmen die Kontrolle. Ab sofort war die Reichs­ver­ei­ni­gung nur noch Befehls­emp­fänger der Gestapo. Alle Personen, die nach den Nürn­berger Gesetzen als Juden galten, wurden in der Reichs­ver­ei­ni­gung zwangs­weise einge­glie­dert. So hatten die Nazis die meisten Juden in einer Orga­ni­sa­tion unter Kontrolle.

Das RSHA beschrieb die Aufgaben der Reichs­ver­ei­ni­gung 1939 so: „Der einzige Zweck der Orga­ni­sa­tion und der ihr einge­glie­derten Einrich­tungen soll die Vorbe­rei­tung der Auswan­de­rung der Juden sein.“ Doch aus der Auswan­de­rung wurden zwei Jahren später Depor­ta­tionen. Bis dahin versuchte der Verband, möglichst vielen Juden bei der Flucht aus Deutsch­land behilf­lich zu sein. Ab 1941 jedoch musste er sogar bei den Depor­ta­tionen mitwirken. Die Mitar­beiter der Reichs­ver­ei­ni­gung versuchten dabei, Depor­ta­tionen zu verzö­gern, aber letzt­end­lich konnten sie diese nicht verhin­dern.

Die Mitwir­kung des Verbands an den Depor­ta­tionen ging so weit, dass er sogar entspre­chende Listen zusammen stellte. Er stellte eigene Krite­rien auf, wer abge­holt werden sollte, stellte Depor­ta­ti­ons­be­fehle zu, und in einigen Fällen holten seine Mitar­beiter die Opfer sogar aus ihren Wohnungen ab. Die Reichs­ver­ei­ni­gung orga­ni­sierte auf Befehl der Gestapo auch die Sammel­stellen, von denen die Opfer zu den Depor­ta­ti­ons­bahn­höfen gebracht wurden.

Doch all das Buckeln half ihnen nichts: Im März 1943 standen die Leitung und die Mitar­beiter der Reichs­ver­ei­ni­gung selbst auf den Listen und wurden abge­holt. Die Orga­ni­sa­tion wurde im Juni aufge­löst, ihre Zentrale in der Kant­straße geschlossen.

Foto: Horst Berko­witz /​ CC BY-SA 3.0