
29. März 1974
Am Nachmittag des 29. März 1974 beobachteten mehrere jugendliche Touristen aus Hessen, wie im Bahnhof Friedrichstraße ein Mann ermordet wurde. Sie waren eben aus Ost-Berlin durch die Grenzkontrolle Richtung Westen gegangen, als sie sahen, wie das 38-jährige Opfer von hinten erschossen wurde und zusammenbrach. Durch sie erfuhr die Öffentlichkeit in West-Berlin von dem Attentat, allerdings nichts über die Hintergründe. Diese kamen erst Jahrzehnte später ans Licht und erinnern an einen schlechten Spionageroman – war aber leider Realität, wie sie im geteilten Berlin nicht nur das eine Mal vorkam.
Der Pole Czesław Jan Kukuczka hatte gegen 13 Uhr in der Straße Unter den Linden die Botschaft seines Landes betreten. Dort behauptete er, eine Bombe bei sich zu tragen und woanders drei weitere deponiert zu haben. Er forderte, dass ihm seine Ausreise nach West-Berlin ermöglicht würde. Der Feuerwehrmann war verheiratet und Vater dreier Kinder, war jedoch ohne seine Familie nach Berlin gereist.
Ein Oberst des polnischen Staatssicherheitsdienstes unterrichtete daraufhin Willi Damm, den Leiter der Abteilung X des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, der mit einigen Männer sofort in die Botschaft fuhr. Dort verabredeten sie, zum Schein auf die Forderung einzugehen, um Kukuczka aus dem Gebäude zu locken.
Tatsächlich verließen die Männer mit Czeslaw Kukuczka um 14.40 Uhr die Botschaft. Ein Stasi-Oberstleutnant fuhr mit ihm zum Bahnhof Friedrichstraße, der nur wenige hundert Meter entfernt war. In der dortigen Grenzübergangsstelle schleuste er ihn durch die ersten beiden Kontrollen. Beim letzten Abfertigungspunkt wartete jedoch versteckt ein bewaffneter Stasi-Mann. Bei ihm soll es sich um den 30-jährigen Martin Manfred N. gehandelt haben, Oberleutnant der Staatssicherheit. Er sollte Kukuczka „unschädlich“ machen. So steht es in den Unterlagen der Stasi, die heute im Bundesarchiv liegen und aufgrund derer im März 2024 ein Mordprozess gegen gegen den vermutlichen Schützen begann.
Nachdem Kukuczka mit einem Schuss niedergestreckt worden war, brach er zusammen und wurde ins Haftkrankenhaus Hohenschönhausen der Stasi gebracht, wo er kurz darauf starb.
Der vermutliche Schütze wurde kurz nach der Tat mit dem „Kampforden Für Verdienste um Volk und Vaterland“ in Bronze geehrt. Seine Identität konnte erst im Jahr 2016 aufgedeckt werden, 2021 beantragte die polnische Regierung einen internationalen Haftbefehl gegen ihn. Der mittlerweile 80-jährige Martin Manfred N. lebt seit 2010 in Leipzig. Da das Gericht bei der Tat Heimtücke vermutet, geht es von Mord aus und nicht von Totschlag. Weil Mord nicht verjährt, kann N. für diese Tat auch heute noch betraft werden.
Foto: Frits Wiarda / CC BY-SA 3.0