Regine Hildebrandt ist gestorben

Regine Hildebrandt, wenige Tage vor ihrem Tod

26. November 2001

Sie gehörte zu den belieb­testen Poli­ti­ke­rinnen, die es nach der Wieder­ver­ei­ni­gung in Berlin und Bran­den­burg gab. Als Bran­den­burger Sozi­al­mi­nis­terin war sie neun Jahre lang das mensch­liche Gesicht der SPD, viele nannten sie „Mutter Courage des Ostens“. Hilde­brandt wurde vor allem für ihre klaren Worte (manche sagten auch „große Klappe“ geliebt. Nachdem Minis­ter­prä­si­dent Manfred Stolpe nach der Land­tags­wahl im Herbst 1999 eine Koali­tion mit der CDU einge­gangen war, trat sie aus Protest aus der Landes­re­gie­rung aus.

In der Versöh­nungs­kirche erlebte sie 1961 unmit­telbar den Mauerbau in der Bernauer Straße mit. Die Kirche lag direkt im Todes­streifen, sie wohnte im Neben­haus, ihr Mann war der Sohn des Pfar­rers.
Hier die komplette Fassung eines Gespräch mit ihr, das 1997 im Buch „Eine Reise durch die Acker­straße“ veröf­fent­licht wurde.

Meine Mutter hat in der Bernauer Straße schon gewohnt in den 30-er Jahren, in der Bernauer Str. 14, da bin ick auch geboren. Das war dieses Ruinen­grund­stück, das da nach ’44 war. Da sind wir denn ausge­bombt, dann wieder nach Berlin nach der Evaku­ie­rung, in die Bernauer Straße 2. Die Numme­rie­rung der Bernauer Straße fing ja erst an der Acker­straße an, davor war der Friedhof hier zwischen der Berg­straße und Acker­straße. So ’ne rote Fried­hofs­mauer, wie sie jetzt noch in der Acker­straße ist, mit so’n senk­rechten Streifen, so war das hier auch. Ick kann mich noch so genau daran erin­nern, weil man ja als Kind denn so’n Verhältnis dazu entwi­ckelt, wenn man vom Stet­tiner Bahnhof kommt und nach hause geht und denn mehrere Schritte zwischen den einzelnen Pfei­lern machen will und die denn zählt.

Das Lazarus-Kran­ken­haus, wo wir jetzt hier drin sitzen, ist mir natür­lich als jemand, der zur Evan­ge­li­schen Versöh­nungs-Gemeinde gehörte, vertraut. Die Versöh­nungs­kirche stand Bernauer Str. 4 und ich wohnte Bernauer Str. 2, Paterre links und die 4 war das Versöh­nungs-Grund­stück. Da stand die Kirche, das Pfarr­haus, Gemein­de­haus und so weiter. Mein heutiger Mann war Pfar­rers­sohn da, vom alten Hilde­brandt, mein Schwie­ger­vater, der war Pfarrer von 1950 bis ’61. Das war also unsere Welt und dann sind wir von da eben immer hier rüber ins Kran­ken­haus gegangen, zum Kran­ken­haus-Singen. Da sind wir denn hier um elfe, halb zwölfe rüber und haben dann hier auf den Stationen gesungen. Natür­lich zu den Festen auch.
In der Acker­straße hatten wir ja noch die Schrip­pen­kirche. Da war auch unser Kirch­saal, da ham wir manchmal mit dem Chor geprobt und auch mal Gottes­dienste gehabt in dem Haus. Und die Büros gegen­über. Wir hatten also West­büros und Ostbüros von der Kirche. Das Kirchen­grund­stück in der Bernauer 4 war relativ groß, die Kirche stand deut­lich zurück gesetzt, davor war freier Raum und da waren die Gemein­de­häuser auf der rechten Seite. Und der erste Teil der Gemein­de­häuser der beinhal­tete das Burck­hardt­haus, das war eine Ausbil­dungs­stätte für Gemeinde-Helfe­rinnen, über viele, viele Jahre nach dem Krieg. Und der zweite Teil, das war das Gemein­de­haus und dann Pfarr­haus und der Kirchen­mu­siker wohnte da. Also die Gemein­de­ar­beit war im wesent­li­chen in Ostberlin, in den Gemein­de­häu­sern. Da war die Bibel­ar­beit, da war’n die Chor­proben, der Konfir­manten-Unter­richt, das war alles da. Da war auch der Gottes­dienst. Wr hatten nur unab­hängig davon, beispiels­weise für Abend­mu­siken oder für spezi­elle Gottes­dienste zusätz­lich noch die Schrip­pen­kirche.

Die wesent­li­chen Erin­ne­rungen, die sich für mich mit der Bernauer und der Acker­straße verbinden, sind, wenn man zum Beispiel zur Schule musse. Die Schule war erst auf der anderen Seite in der Stre­litzer Straße im Westen, da bin ick einge­schult worden, weil es die nächste Schule war. Denn kam aber ’53 mit Ulbricht die Tatsache, dass die Ostler aber auch in Ostberlin zur Schule gehen sollten, da musste ich also aus der Schule raus­ge­nommen werden und kam auf die Schule in der Berg­straße. Diese graue Schule, die ist ja immer noch da. Dahin bin ich also bis zur achten Klasse gegangen. Und alles natür­lich immer von der Bernauer Straße aus. Und hinterher war’s dann die Max-Planck-Ober­schule in der August­straße und da war mein Schulweg dann jeden Tag durch die Acker­straße. Sehnse, da in die Acker rum, dann den ganzen Friedhof lang, über’n Pappel­platz rüber, Schrö­der­straße. Also inso­fern umkreist man den Bereich dann immer. Aus der Zeit der Berg­straßen-Schule und in die Zeit fiel auch der 17. Juni. Und da war dann die Sache, dass man von der Bernauer Straße in die Acker­straße nicht mehr reinkam, weil das alles gesperrt war, auch die Berg­straße. Da wurde Ost- von West­berlin das erste Mal dann abge­rie­gelt. Und wir hatten dann nur die Möglich­keit über die Brun­nen­straße. Das war nach dem 17. Juni ’53, aber nur zeit­weilig. Da war dann Polizei, da war nischt zu machen.

Über­haupt war das inter­es­sant zu sehen, zuerst war das ja die Sowjet­zone, dann der sowje­ti­sche Sektor von Berlin und denn wurde es der demo­kra­ti­sche Sektor von Berlin nachher. Und immer wurden dann die Schilder gewech­selt, in der Acker­straße. ‚Sie verlassen jetzt den demo­kra­ti­schen Sektor von Berlin‘. Diese Form der Bezeich­nung, die sah man natür­lich an der Acker­straße immer ganz beson­ders. Sowie also die Bezeich­nung des Ostsek­tors sich änderte, wurde auch immer entspre­chend der offi­zi­ellen Vari­ante die Beschrif­tung des Schildes geän­dert. Denn waren da die Vopos und die Zoll-Leute, die da standen, die Acker­straße war ja ’ne Grenz­straße. Da war ja zuerst der völlig durch­ge­hende Verkehr, wie das so üblich war, zu Frie­dens­zeiten. Dann eben die Markie­rung, die Tatsache, dass da Schilder standen und man wusste, wo man ist. Und dann sollte als nächstes der Fahr­ver­kehr unter­bunden werden und dann hatten die Folgendes gemacht: Da haben die hier in der Acker­straße und in den übrigen Straßen dann einen Stamm quer über die Straße gelegt und in Asphalt einge­bettet, so konnte dann da keen Auto mehr rüib­erfahren, Fußgänger natür­lich schon und Fahr­räder. Und dann kam eben am 17. Juni zum ersten Mal die Situa­tion für uns aus der Bernauer Straße, dass wir nicht mehr durch die Acker­straße durch konnten, weil abge­sperrt war. Das war aber nur zeit­weilig. Um dann in die Berg­straße zur Schule zu kommen, musste ich erstmal über die Stre­litzer bis zur Brun­nen­straße, da kam man durch, dann ganz hinten wieder runter durch die Rheins­berger, so kam man dann da durch.

Die Grenze war ja in der Bernauer Straße die Häuser­front. Um das mal deut­lich zu machen: Wenn wir aus’n Fenster gekiekt haben, war’n wir mit dem Kopp im Westen, versteh’n Sie? Wir hatten in der Bernauer Straße die schöne Situa­tion, wir wohnten auf der Ostseite und wenn wir das Haus verlassen haben, waren wir im Westen. Und wenn wir, was ja üblich war an Rege­lung für die Ostber­liner, den Tages­piegel kaufen wollten, für Ostgeld, dann konnten wir das drüben auf der anderen Straf­ten­seite im Laden tun. Wr konnten ooch zur Brun­nen­straße zu Pico gehen und konnten uns da Schuhe kaufen und mit dem Pico-Luft­ballon, den man dann da kriegte, auch nach hause gehen. Jeder andere Ostdeut­sche oder Ostber­liner der da rüber gegangen ist, der durfte dit ja über­haupt nicht, sondern der musste, wenn er sich da Schuhe gekauft hatte, die erstmal einstauben, dasst sie alt aussehen und die anderen wegschmeißen und dann versu­chen, in den Osten zurück zu kommen. Und Pico-Luft­bal­lons, das ging schon gar nicht.
Schwie­rig­keiten hatten wir also vor allem, wenn wir rüber in’n Osten wollten, denn immer, wenn wir nach Ostberlin rein wollten, mussten wir die Grenze passieren. Das war also eine völlig absurde Situa­tion, wenn wir beispiels­weise einge­kauft haben, zum Beispiel für die Fest­tage ’ne Ente, dann mussten wir die Grenze passieren. Und da war’s ja dann lange so, nachdem primär gesagt wurde, der kluge West­ber­liner kauft in der HO, wurde gesagt, Westler dürfen nicht für Ostgeld im Osten kaufen. Und dann mussten wir immer mit’m Ausweis einkaufen und wenn wir dann vom Einkaufen im Osten kamen, haben die uns an der Grenze kontrol­liert. Und dann hatten wir den Ausweis, da stand dann drin Bernauer 2, aha, das ist ja gleich hier um die Ecke rum. Wir hätten schmug­geln können wie die Wilden, verstehnse. Also dit war die Grenz­si­tua­tion.
Die Bernauer Straße war ja die Grenz­straße und in der Acker­straße hörte der Ostteil auf und dann begann der West­teil. Und auf der Ostseite waren dann immer die Volks­po­li­zisten und drüben standen die Schupos, also die West­ber­liner Polizei. Und Heilig­abend sind wir denn nach dem Fest in der Versöh­nungs­kirche mehrere Jahre lang nochmal los gelaufen, mit ’n paar Leuten vom Posau­nen­chor und haben dann prak­tisch ’ne kleine Besche­rung gemacht. Wir haben geblasen an der Grenze, und ’n paar Gaben für die Ostpo­li­zisten und für die West­po­li­zisten.

Für uns war dann auch noch wichtig die Acker­halle. Wir hatten ja noch’n Karni­ckel hinten auf’m Hof und da war so ’n Vorbau und da hatten wir unser Karni­ckel, das haben wir da groß gezogen. Und dann sollte das geschlachtet werden, dann rein in Ruck­sack damit und in die Acker­halle zum Schlachter. Der hat das dann geschlachtet, aber von uns hat das dann keener gegessen.
Die Abhauerei in der Bernauer Straße war ja relativ einfach, da ja da keiner hin konnte von den Vopo, war es so. Über uns, Meiers, 1. Stock, Bernauer Str. 2, haben sich regel­recht einen Umzugs­wagen bestellt und dann ihre ganzen Möbel raus­ge­tragen. Und das war dann die Repu­blik­flucht. Aber das Schärfste war, in der Bernauer zwischen der Acker und der Stelitzer da war noch ’n Kuhstall, sowas hatten wir ja früher ooch noch hier, mit Kühen und anderm Vieh­zeug drin. Die sind auch abge­haun, mit Kühen und allem. Den hatten die Vopos zwar ’ne Tür hinten rein­ge­hauen, dass sie kontrol­lieren konnten, aber die ham ’se einfach zuge­mauert. Und als die Vopos das gemerkt hatten, mussten die erstmal die Mauer wieder aufbre­chen und so, aber da war’n die dann schon weg. Das war wirk­lich origi­nell damals in der Gegend.

Also dann 1961, da wurden ja die Grenzen zuge­sperrt. Ich selber war gerade im Urlaub, zu der Zeit waren Ferien, ich war gerade 20 und habe studiert und hab dann in Dresden gehört, dass gerade die Mauer gebaut werden soll. Da bin ich am 14. August dann gleich nach Berlin zurück und konnte aber mit meinem Ausweis noch nach West­berlin. Ich konnte da rum, sonst hätte ich ja nicht in die Wohnung gekonnt. Die konnten ja nicht sagen, die Mauer ist jetzt zu, Sie bleiben hier und ihre Sachen müssen wir leider mit sprengen.
Aber von hinten hatten die Vopos in den 50-er Jahren schon Durch­gangs­mög­lich­keiten geschaffen, aber Sie kennen ja unge­fähr die Verhält­nisse hier im Kiez. Da war alles kolossal verbaut, mit engen Höfen und großen Mauern und Ställen und so wat. In der Bernauer 2 hatten wir so ’nen kleinen Hof, da ham’se so ’ne Tür durch­ge­bro­chen, durch irgend­welche Gänge kamen wir dann irgendwo am Friedhof in der Acker­straße raus. Am Elisa­beth-Friedhof. Da war dann die Tür, wo die Leute alle durch­mussten in den Wochen nach dem 13. August. Das war dann von der Stre­litzer Straße aus und von der Acker­straße über’n Friedhof die einzige Möglich­keit, an die Wohn­häuser ranzu­kommen. In der Tat, wenige Tage nach dem 13. August sind dann zunächst erstmal die Haus­türen in der Bernauer Straße zuge­mauert worden und man konnte nur noch hinten durch den Friedhof und die Höfe in die Häuser.

Direkt nach dem 13. August mussten wir aber über die Brun­nen­straße, da hatte die Grenze einen Über­gang. Wir mussten dann zuerst da immer außen rum, das war ’ne völlig absurde Situa­tion. Ich erin­nere mich auch deswegen so genau daran, weil am 14. August ein Paten­kind von mir in West­berlin, das hatte gerade den einjäh­rigen Geburtstag. Da sind wir dann, weil ich ja nun gerade da war, mit den Eltern nach­mit­tags zum Geburtstag gefahren. Die, die da nicht so genau durch­sahen, haben sich natür­lich gewun­dert, dass da über­haupt noch eener aus’n Osten rüber kam. Und mein Vater, der immer sehr lustig war, der hat gesagt, das nächste Mal kommen wir dann zur Einseg­nung. Da haben sich alle drüber amüsiert. Und im Endef­fekt war’s dann tatsäch­lich so, mein Vater und meine Mutter als Rentner konnten die dann auch rüber. Aber ich als Paten­tante, da war dann 1974 gar nicht dran zu denken.
Also, am Anfang konnte man da noch ’ne Weile durch, dann wurden die Türen und dann die Fenster zuge­mauert, im Parterre. Wir wohnten ja Parterre, das war dann das nächste. Dann sind wir ausge­zogen, also umge­zogen, mit Kampf­gruppen, aus der Bernauer Str. 2 in die Bernauer Str. 10, wo gerade aus’m ersten Stock sich jemand abge­seilt hatte. Da sind wir dann ringe­kommen. Denn wohnten wir auf einmal ’ne Etage höher, weil unten alles zuge­mauert war. Dis war dann nur ’ne Zwischen­phase, bis Ende September, wo wir noch da gewohnt haben. Und denn wurden wir endgültig aus der Bernauer Straße alle umge­sie­delt in irgend­welche anderen Wohnungen. Aber vorher, das war die Zeit, als man nicht mehr in die Bernauer Straße in den Westen rein konnte, aber immer noch rein­ku­cken konnte. Und deshalb konnten auf der Straße die Verwandten und die Freunde alle kommen und dann konnte man sich wenigs­tens unter­halten. Dann konnte man auch was runter nuddeln und was hoch nuddeln. Mein Bruder, mein einziger Bruder, hat sich im September noch mit seiner Frau aus dem ersten Stock in der Bernauer 10 abge­seilt, im wahrsten Sinne des Wortes mit der Strippe runter. Nachdem also die Fenster und die Türen zuge­mauert waren, und wir in der Bernauer 10 gewohnt hatten, wollte mein Bruder dann doch rüber nach West­berlin abhauen. Und er hat dann seine Frau infor­miert in Dessau und dann sind wir mit’m Motorrad zurück gefahren nach Berlin und sie ist mit dem Zug gekommen und die entschei­dende Minute war dann in der Acker­straße. Er hatte ja ’nen Auswes, wo drin stand „Bernauer Str. 10“, aber seine Frau nicht, die war ja aus Dessau. Und jetzt war die Frage, kriegt er sie über­haupt rin in das Haus Bernauer 10, um mit ihr abzu­haun oder nicht? Und da war dann die Entschei­dung in der Acker­straße, da am Fried­hofs­ein­gang. Die Vopos haben sie da bequat­schen können und deshalb durften die dann über’n Friedhof ins Haus und so konnten sie dann abhauen. Das war ne Schick­sals­stunde in der Acker­straße, das sag ich Ihnen.

Natür­lich gabs auch eine Diskus­sion, als man noch rüber konnte, ob man nun auch in den Westen geht. Aber ein Teil der Gemeinde war ja nun hier im Osten, man war ja auch einge­bunden in viel­fäl­tige Bezie­hungen, die Kollegen, Kommi­li­tonen, Kame­raden und Feunde aus dem Bereich. Ich war ja auch da in der Schule, da waren die ganzen Feunde. Das war auch schon etwas getrennt in den Jahren. Außerdem kannte ich ja auch den Westen, hab auch ’ne Weile am Zoo gear­beitet, da in einer Gast­stätte und hab schon gemerkt, dass es da nicht besser ist. Wenn man viel­leicht mehr Wert gelegt hat auf’s Geld­ver­dienen, dann viel­leicht, aber mir war was anderes wichtig, das waren die Feunde und darum bin ich nicht rüber. Das war immer klar.

Im Herbst sind wir dann umge­zogen, das war nun furchtbar. Am Sonntag, früh­mor­gens um sechse, wir schliefen noch, da klin­gelte es. Da kamen Kampf­gruppen, rumms, gleich die Türen und Fenster besetzt und wir mussten uns in deren Anwe­sen­heit dann anziehen, weil die immer erlebt hatten, dass die Leute dann doch noch aus’m Fenster gesprungen sind. So sind wir dann umge­zogen, also aus dem Nichts heraus, ohne entspre­chende Vorbe­rei­tungen. Die haben gesagt, jetzt wird gepackt, jetzt wird umge­zogen und wir wussten über­haupt nicht wohin. Das is’n köst­li­ches Gefühl, wenn man auf einmal seine Sachen packen muss. Und dann hatten sie unsere Ausweise einge­sam­melt und wollten uns in die Kleine Alex­an­der­straße bringen. Aber die kannte ich nun und das war wirk­lich so ’ne Bruch­bude. Da hat meine Mutter, die eigent­lich ein ruhiger Mensch ist, so’n Theater gemacht, dass sie gesagt haben, gut wir suchen was anderes. Dann alles auf den LKW rauf und suchen, wo noch was frei ist. Wir sind dann in der Neuen Schön­hauser gelandet.
Die, die dann unsere Sachen sortiert haben, haben natür­lich auch gleich mal die ganzen Bücher durch geguckt, ob nicht viel­leicht was staats­ge­fähr­dendes dabei ist. Und da haben’se dann nen extra Stapel gemacht, wo die ganzen schlimmen Bücher drauf lagen. Und mein Schwager, der hat uns ja auch geholfen beim Runter­tragen, der sah dann diesen Stapel da stehen hat den komplett mit runter­ge­nommen und weg war er. Nicht mit Absicht, einfach nur so.
Wir konnten es damals ja nicht glauben, also das mit der Mauer, dass das lange so bleibt. Ich hatte ja erzählt, ich war eigent­lich im Urlaub und ich bin dann auch wieder runter­ge­fahren, hatte gedacht, na das werden wir erst mal sehen. Na ja. Aber das kann man sich ja jetzt schon wieder kaum vorstellen.

Kurz bevor die Mauer gebaut wurde, hatte mein Schwie­ger­vater gerade noch den Dach­stuhl von der Versöh­nungs­kirche, also das Turm­dach, erneuert, das war pico­bello in Schuss. Und die Kirche ist dann vor sich hin verrottet. Wir sind danach immer hinge­pil­gert in die Bernauer, hinten auf den Elisa­beth-Fiedhof, haben von da Aufnahmen gemacht. In die Stre­litzer Straße, da hatten wir ein bestimmtes Trep­pen­haus, wo man hinten raus­kieken konnte und da sind wir denn immer in zweiten Stock hoch und haben die Aufnahmen gemacht in den Todes­streifen rüber. Und da sind wir denn immer ruff, weil man da blen­dend Aufnahmen machen konnte. Aber als denn die Kirche gesprengt werden sollte, das hat mir denn doch keine Ruhe gelassen. Und da bin ich denn hinge­fahren und wollte in meinen Haus­flur in der Stre­litzer Straße, aber das war dann alles besetzt von der Volks­po­lizei. Und denn bin ick in die Rheins­berger rin und gleich neben der Schule, da konnte man noch durch­ku­cken. Da hab ich ’ne Lücke gefunden und in dieser Lücke stand die Kirche. Und ick steh da alleene im Haus­flur und auf einmal, wer kommt da? Mein Mann! Der hat dit auch nicht ausge­halten. Wir hatten das über­haupt nicht abge­spro­chen. Der hat dann auch gesucht und keine andere Stelle gefunden. Denn haben wir da gestanden und gewartet, bis sie gesprengt wird. Und denn hab ick da drei Bilder gemacht, einmal wie se steht, einmal wie sie kippt und wie alles irrer Staub ist.

Foto: Holger Noß /​ CC BY-SA 2.5