Otto John: Opfer oder Überläufer?

Otto John (Mitte) 1955 in der Karl-Marx-Allee

20. Juli 1954

Für die DDR-Stasi muss es wie Weih­nachten und Karl Marx‘ Geburtstag an einem Tag gewesen sein: Der Chef des Bundes­verfassungs­schutzes, Otto John, wird ihnen in Person präsen­tiert.
Eigent­lich weiß man ja in west­deut­schen Sicher­heits­kreisen, dass Besuche hoch­ran­giger Geheim­nis­träger in West-Berlin gut abge­si­chert sein müssen. Mitte der 1950er Jahre steht die Mauer noch nicht, ostdeut­sche wie sowje­ti­sche Agenten tummeln sich im feind­li­chen Gebiet.

Als eins­tiger Ange­hö­riger des Wider­stands gegen das NS-Regime war Otto John zu Besuch im Bedler­block, dem Gebäude, in dem seine Mitver­schwörer um Graf von Stauf­fen­berg erschossen worden waren. 1954 gab es dort eine Feier zum Jahrestag des Atten­tats vom 20. Juli, danach fuhr John zu seinem Freund (und KGB-Agenten) dem Frau­en­arzt Wolf­gang Wohl­ge­muth in der Uhland­straße 154. Was danach passierte, ist bis heute unge­klärt.

Version 1 von Otto John: Er wurde durch ihm unbe­kannte Drogen bewusstlos gemacht und wachte erst am Morgen des nächsten Tages auf einer Couch wieder auf. Die stand aller­dings nicht mehr in Char­lot­ten­burg, sondern in Karls­horst, im Haupt­quar­tier des KGB. Die Sowjets brachten ihn für vier Monate nach Moskau und danach wieder in die DDR. Von dort konnte er im Dezember 1955 nach West-Berlin flüchten.

Version 2, offi­zi­elle DDR-Darstel­lung: Otto John reiste frei­willig in die DDR, weil er mit den poli­ti­schen Verhält­nissen in der Bundes­re­pu­blik unzu­frieden war. Vor allem die Remi­li­ta­ri­sie­rung und den wach­senden Einfluss früherer Natio­nal­so­zia­listen trieben ihn zu diesem Schritt. In einer Pres­se­kon­fe­renz trat John persön­lich auf und erläu­terte diese Gründe. „Ich habe mich nach reif­li­cher Über­le­gung entschlossen, in die DDR zu gehen und hier zu bleiben, weil ich hier die besten Möglich­keiten sehe, für eine Wieder­ver­ei­ni­gung und gegen die Bedro­hung durch einen neuen Krieg tätig zu sein.“

Version 3 von Poli­tik­wis­sen­schaftler Hartmut Jäckel nach Auswer­tung von Unter­lagen aus dem Stasi-Archiv:
„Gewich­tige Indi­zien besagen: Der Geheim­nis­träger Otto John hat sich am 20. Juli 1954 frei­willig zu Gesprä­chen nach Ost-Berlin begeben. Inner­lich bewegt von einem naiv-patrio­ti­schen Impetus, der deut­schen Einheit auf eigene Faust voran­zu­helfen, hat er nicht damit gerechnet, dass ihm die Rück­kehr in den West­teil Berlins verwehrt werden könnte. Als ihm dies bewusst wurde, mag er geglaubt haben, einen groben Fehler durch einen noch gröberen korri­gieren zu können.“

Nachdem er im Dezember 1954 von Moskau wieder nach Ost-Berlin gebracht worden war, tauchte John an mehreren Stellen in der DDR auf. Er hatte dort eine Wohnung sowie ein Büro und hielt im ganzen Land poli­ti­sche Vorträge. Ob Otto John nun entführt wurde oder ein Über­läufer war – seine Zeit in der DDR war am 12. Dezember 1955 zu Ende. An diesem Tag setzte er sich nach West-Berlin ab, wo er sofort verhaftet und nach Karls­ruhe ausge­flogen wurde.
Ein Jahr später verur­teilte der Bundes­ge­richtshof John wegen Landes­ver­rats zu vier Jahren Zucht­haus, jedoch wurde er schon nach drei Jahren entlassen.

Eigent­lich konnte anhand der vorlie­genden Indi­zien nicht darüber entschieden werden, ob Otto John nun Opfer oder Über­läufer war. Doch beim Gericht sagte ein Mann aus, der das Urteil maßgeb­lich beein­flusste: Der Jour­na­list Karl Richard Albert Wittig hatte unter Eid behauptet, John 1955 in Weimar getroffen zu haben, wo dieser ihm „sein Herz ausge­schüttet habe.“ Demnach war Otto John ein Idea­list, der frei­willig in die DDR gefahren sei und jeder­zeit auch wieder zurück­kehren könnte, wenn er wollte. Johns Anwälte stritten das natür­lich ab, aber sogar der Staats­an­walt meinte: „Mit Wittig ist nichts anzu­fangen, der phan­ta­siert, kein Wort glaub‘ ich dem.„
Die Richter waren offenbar anderer Meinung und verur­teilten Otto John. Sechs Jahre später, John war längst wieder in Frei­heit, verschwand Karl Richard Albert Wittig während einer Reise von Hessen nach West-Berlin. Ob er von der Stasi verhaftet oder in die DDR über­ge­laufen war, wurde nie geklärt.
Otto John kämpfte noch bis zu seinem Tod 1997 vergeb­lich für seine Reha­bi­li­tie­rung. 1986 gewährte ihm der dama­lige Bundes­prä­si­dent Richard von Weiz­sä­cker eine Sonder­ente von monat­lich 4.200 DM, „um einen Schluss­strich zu ziehen“.

Foto: Bundes­ar­chiv, Bild 183–25798-0007 /​ Heilig, Walter /​ CC-BY-SA 3.0