Schwingendes Café

Das Pressecafé am Alexanderplatz

30. April 1974

Es sollte eine feier­liche Eröff­nung werden: Zusammen mit dem neuen Pres­se­haus am Alex­an­der­platz, in dem vor allem der Berliner Verlag seinen Sitz hatte. Am Vorabend des großen sozia­lis­ti­schen Feier­tags, dem 1. Mai, sollte das Pres­se­café, mit dem großen Wand­fries Die Presse als Orga­ni­sator an der Außen­wand, die Errun­gen­schaft des Sozia­lismus preisen. Viele Meter spannt sich der Gastro­nomie-Flachbau über den Gehweg, frei­tra­gend, ohne Säulen oder andere Stützen.

Diese Form der Archi­tektur ist nicht nur kompli­ziert, sondern auch riskant. Kann sie der Hebel­wir­kung trotzen, die massiv auf das hängende Gebäude einwirkt? Bis dahin gab es nicht viel Erfah­rung mit solchen Konstruk­tionen, nun aber wurde sie stolz der Öffent­lich­keit vorge­führt und es durfte nichts schief­gehen. Dieser Plan ist jedoch miss­lungen.

Die Stim­mung war gut, mehrere hundert Gäste tanzten ausge­lassen, vor allem im nach außen gelan­gerten Bereich. Doch nicht nur die Gäste waren beschwingt, auch die Konstruk­tion begann sich zu bewegen. Bis zu sechs Zenti­meter schau­kelte dieser Gebäu­de­teil nach oben und unten, sodass innen eine Panik ausbrach. Die Besu­cher dachten, gleich würde der Riegel abbre­chen und sie alle mit nach unten reißen. Gleich­zeitig rannten die Gäste in Rich­tung Ausgang, Tische umwer­fend, der Boden war übersät mit Geschirr, Speise- und Geträn­ke­resten. Ein Wunder, dass es keine schwerer Verletzten gab.

Sofort rückte die Staats­si­cher­heit an, die die Ermitt­lungen über­nahm: Was hatte die Schwin­gungen ausge­löst? Schnell war klar, dass keine Staats­feinde dafür verant­wort­lich waren, sondern die Physik. Wenn solch ein frei­schwe­bender Körper erstmal in Bewe­gung gerät, wird es gefähr­lich.

In der Öffent­lich­keit wurde damals natür­lich nichts bekannt, immerhin war das Pres­se­café ein Pres­ti­ge­ob­jekt der DDR. Da durfte man nicht zugeben, dass man die Statik falsch berechnet hatte. In den folgenden Tagen gab es einige Tests, einmal wurden sogar Soldaten zum Test-Tanzen ins Café beor­dert, um die Schwin­gungen zu messen. Das Ergebnis war: Das Pres­se­café darf weiterhin geöffnet bleiben, getanzt werden durfte künftig aber nur noch im hinteren Teil, der nicht über dem Gehweg schwebte. Sicher ist sicher.

Foto: Sing­le­speed­fahrer /​ CC0 1.0