S‑Bahn-Unglück mit 45 Toten

27. Juni 1922

Es herrschte eine eigen­tüm­liche Stim­mung an diesem 27. Juni 1922 in der Haupt­stadt, ange­spannt und viel­leicht ein wenig kämp­fe­risch. Berlin trug Trauer, gerade wurde der drei Tage zuvor von Mitglie­dern der rechts­extremen Terror-Orga­ni­sa­tion Consul ermor­dete Außen­mi­nister Walther Rathenau in Ober­schö­ne­weide zu Grabe getragen. Eine Tat, die viele Berli­ne­rinnen und Berliner aufrüt­telte.

Selbst viele, die sich nicht mit der jungen Weimarer Repu­blik iden­ti­fi­zieren mochten, waren empört ange­sichts dieses brutalen und hinter­häl­tigen Mordes. "Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: Der Feind steht rechts", hatte Reichs­kanzler Joseph Wirth von der katho­li­schen Zentrums­partei erregt im Reichstag ausge­rufen und damit vielen Menschen aus der Seele gespro­chen.

Für 14 Uhr hatten die demo­kra­ti­schen Parteien an diesem Sommertag zu einer großen repu­bli­ka­ni­schen Kund­ge­bung im Lust­garten vor dem Schloss aufge­rufen. Damit jeder, der wollte, auch daran teil­nehmen konnte, stellten Fabriken, Kontore und zahl­reiche Geschäfte ein bis zwei Stunden vorher ihren Betrieb ein. Und so strömten hundert­tau­sende Arbeiter und Ange­stellte, Sekre­tä­rinnen und Verkäu­fe­rinnen ins Freie, um sich entweder auf den Weg ins Zentrum zu machen oder auf den Weg nach Hause. Denn viele nutzten den freien halben Tag auch gerne für andere Dinge als für das Gedenken an den ermor­deten Minister.

Das hatte zur Folge, dass die Bahn­höfe in vielen Teilen der Stadt über­quollen, denn eine solche Flut von Menschen, die alle gleich­zeitig die Bahnen nutzen wollten, konnte der öffent­liche Nahver­kehr nicht verkraften. Vor allem auch, weil bis auf die Ring­bahn auch der Nahver­kehr seinen Betrieb einge­stellt hatte. Auch eine vorsorg­lich geplante Erhö­hung des Zugtaktes auf zwei­ein­halb Minuten auf den verblie­benen Stre­cken konnte den Ansturm auf die Züge kaum mindern, und bald geriet die Situa­tion auf vielen Bahn­höfen außer Kontrolle.

Die Mitar­beiter der Bahn gaben sich alle Mühe, der Lage Herr zu werden, aber sie waren heillos über­for­dert. Das galt auch für den Bahnhof Schön­hauser Allee in Prenz­lauer Berg. Doch was um kurz vor 13 Uhr noch niemand ahnte: Der Bahnhof der Ring­bahn sollte zum Ausgangs­punkt eines der schlimmsten Zugun­glücke der Berliner Geschichte werden.

Jedes Mal, wenn einer der völlig über­füllten Züge den Bahnhof verließ, sprangen viele Personen im letzten Augen­blick auf die Tritt­bretter, um noch mitfahren zu können. Das war ausdrück­lich verboten und die Bahn­be­amten wiesen immer wieder darauf hin. Doch viele Fahr­gäste inter­es­sierte das nicht. "Sie waren zu unge­duldig und wollten nicht auf den nächsten Zug in zwei­ein­halb Minuten warten", beschrieb Eisen­bahn-Präsi­dent Wulff das Verhalten dieser Leute später.
Unglücks­stelle nahe der Swine­münder Brücke

Und genauso war es auch, als sich um ziem­lich genau 13 Uhr der Zug mit der Nummer 1814 langsam und ruckelnd in Gang setzte. Wieder sprangen nach Aussage eines Augen­zeugen rund 150 Personen, in erster Linie Männer, auf die Tritt­bretter, ohne auf die Mahnungen der Bahn­an­ge­stellten zu achten. Einer dieser Tritt­brett­fahrer war, wie spätere Zeugen­be­fra­gungen durch die Polizei ergaben, ein junger Mann, der auf dem Rücken einen Ruck­sack trug – aus dem mehrere lange Holz­stangen heraus­ragten. Er sollte die tragi­sche Haupt­rolle in dem Drama spielen, das sich wenige Minuten später abspielte.

Wohl ein bis zwei Minuten später als Zug 1814 setzte sich im nächsten Bahnhof auf der Nord­bahn, Gesund­brunnen, Zug 1815 in Bewe­gung. Aller­dings in entge­gen­ge­setzter Rich­tung, so dass sich beide Züge aufein­ander zube­wegten. Er war gerade in Höhe der Millio­nen­brücke, die inzwi­schen Swine­münder Brücke heißt und sich in der Nähe des heutigen Gesund­brunnen-Centers befindet, als er auf den Gegenzug traf. Eine Situa­tion, wie sie an dieser Stelle zigmal pro Tag vorkam. Aber am 27. Juni 1922 um kurz nach 13 Uhr war etwas anders als sonst.

An dieser Stelle verengten sich die Schienen, so dass zwischen den Zügen kaum mehr Platz blieb. Die Menschen auf den Tritt­bret­tern mussten sich also sehr eng an die Außen­wände drücken, um nicht vom entge­gen­kom­menden Zug herun­ter­ge­rissen zu werden. Doch diesmal klappte das nicht, und das lag an den langen Holz­stangen, die aus dem Ruck­sack des jungen Tritt­brett­fah­rers ragten.

Sie erfassten die ersten Tritt­brett­fahrer des anderen Zuges und rissen sie herunter, denn die Wucht des Aufpralls war so groß, dass sie sich nicht mehr fest­halten konnten. Sie fielen zwischen die fahrenden Züge und gerieten mit ihren Körpern oder Teilen davon unter die Räder.

Andere der Tritt­brett­fahrer sahen, was auf sie zukam und sprangen herunter, in der Hoff­nung, ein kontrol­lierter Sprung könnte sie davor bewahren, eben­falls unter den Zug zu fallen. Doch diese Hoff­nung trog. Auch sie gerieten unter einen der beiden fahrenden Bahnen oder, wenn sie beson­deres Pech hatten, unter beide. Für viele war es ein Sturz in den Tod.

Fahr­gäste in beiden Zügen, die beob­ach­teten, was geschah, zogen geis­tes­ge­gen­wärtig die Notbremsen. Im Berliner Tage­blatt schil­derte am nächsten Tag ein Zeuge, was er gesehen hatte: "Mark­erschüt­ternde Schreie wurden laut und entsetz­lich lange Sekunden vergingen, ehe die Zugführer durch das Ziehen der Bremsen aufmerksam geworden waren und die Züge zum Stehen brachten." Als die Fahr­gäste heraus­sprangen, um erste Hilfe zu leisten, bot sich ihnen ein Bild des Grauens, das sie vermut­lich ihr rest­li­ches Leben nicht mehr vergessen sollten.

Überall lagen tote und verletzte Menschen, viele davon mit abge­trennten Glied­maßen. Arme, Beine, Köpfe mit aufge­ris­sener Schä­del­decke lagen zwischen den Gleisen. Manche der noch lebenden Opfer schrien vor Schmerz, andere wimmerten leise vor sich hin. Der Reporter der Vossi­schen Zeitung beschrieb, was ihm Zeugen berichtet hatten, so: "Es war ein fürch­ter­li­cher Knäuel blutender, zerfetzter Menschen­leiber, aus dem gellendes Hilfe­ge­schrei und Wimmern erscholl." Ein anderer Zeuge sagte dem Berliner Tage­blatt: "Es ist besser, wenn man über die furcht­barsten Verstüm­me­lungen, die je ein Mensch gesehen hat, schweigt. Worte können die Verstüm­me­lungen und Qualen der verletzten Menschen nicht schil­dern."

Fahr­gäste, unter ihnen ein paar Ärzte, versuchten, erste Hilfe zu leisten, so gut es eben ging. Doch ange­sichts des Ausmaßes waren sie weit­ge­hend hilflos. Bei 18 Opfern kam jede Hilfe zu spät, sie waren teils grausam entstellt. Viele Schwer­ver­letzte wurden neben die Gleise geschafft, die zahl­rei­chen leichter Verletzten wurden vor Ort versorgt. Auch viele der unfrei­wil­ligen Zeugen benö­tigten Hilfe.
"Das Chaos war unbe­schreib­lich", so der Reporter der Vossi­schen in seinem Bericht am nächsten Tag weiter. "Viele von den unmit­tel­baren Zeugen des Unglücks, beson­ders Frauen, erlitten Schrei­krämpfe, fielen in Ohnmacht, erlitten Nerven­schocks."

Die ersten Hilfs­kräfte benö­tigten nur zehn bis 15 Minuten, bis sie vor Ort eintrafen – eine Zeit, die den Opfern und Helfern dennoch endlos vorkam. Als erstes kam eine Rettungs­mann­schaft aus der Poli­zei­wache in der nahen Gaudy­straße, kurz darauf folgte der Direktor des Rettungs­amtes mit zahl­rei­chen Ärzten, ebenso die Feuer­wehr aus der Feuer­wehr­wache Lini­en­straße. Von dort wurde der Alarm "Massen­un­glück" an alle Berliner Wachen ausge­geben, die zahl­reiche Wagen schickten.

Die Rettungs­kräfte standen vor einigen Schwie­rig­keiten, vor allem, weil sie mit den Rettungs­bahren zu den Gleisen zunächst eine enge Tür durch einen Zaun passieren und eine mehrere Meter tiefe Böschung aus Lehm­boden hinun­ter­steigen mussten. Zudem hatte sich schnell eine Menge von Schau­lus­tigen versam­melt, die den Zugang versperrte. Das Berliner Tage­blatt berich­tete andern­tags: "Beson­ders schwierig wurde den Feuer­wehr­leuten das Vorgehen durch die Unver­nunft des Publi­kums gemacht." Trotz dieser Widrig­keiten waren die Verletzten binnen kurzer Zeit versorgt und abtrans­por­tiert.

Die meisten Toten wurden ins Leichen­schau­haus gebracht, andere Leichen sowie die Verletzten in die Kran­ken­häuser Pankow, Fröbel­straße, Fried­richs­hain, ins Jüdi­sche Kran­ken­haus, in die Charité und in andere Häuser. Ihre Namen wurden am nächsten Tag in den Zeitungen bekannt­ge­geben. Beim Anblick zahl­rei­cher Opfer war ziem­lich klar, dass sie ihre schweren Verlet­zungen nicht über­leben würden. Und so war es auch – die Gesamt­zahl der Toten wurde wenige Tage später offi­ziell mit 45 benannt. Dazu kamen mehr als 50 Schwer­ver­letzte, die zum Teil ihr rest­li­ches Leben unter den Folgen des Unglücks leiden mussten.

Wenige Stunden, nachdem sich der Unfall ereignet hatte, besich­tigten Reichs­ver­kehrs­mi­nister Wilhelm Groener und Eisen­bahn­di­rek­tions-Präsi­dent Wulff den Unfallort. Schon vorher hatte sich eine rasch gebil­dete Unter­su­chungs­kom­mis­sion der Reichs­bahn­di­rek­tion und des zustän­digen Betriebs­amtes II am Unfallort einge­funden und die Ermitt­lungen über den Hergang aufge­nommen. Auch wenn manche Zeugen behaup­teten, eine offene Tür im Zug 1815 aus Rich­tung Gesund­brunnen gesehen zu haben, die die Tritt­brett­fahrer herun­ter­ge­stoßen habe, so ergab die Unter­su­chung, dass der Arbeiter mit den Holz­latten die Ursache war.

Berlin stand unter Schock. 45 Menschen waren aufgrund leicht­sin­nigen Verhal­tens buch­stäb­lich unter die Räder gekommen und gestorben, viele andere erlitten schwere Verlet­zungen. So boten die letzten Tage im Juni 1922 für die Berli­ne­rinnen und Berliner gleich doppelt Anlass zur Trauer: Erst erschüt­terte sie das Attentat auf Außen­mi­nister Rathenau, dann die Kata­strophe vom Nord­bahn­ring.

Text: Armin Fuhrer /​ Berliner Zeitung /​ CC BY-NC-ND 4.0