19. September 1910
Die 141 Kohlenarbeiter und Kutscher der Kohlenhandlung Ernst Kupfer und Co. in der Moabiter Sickingenstraße legten am 19. September 1910 geschlossen die Arbeit nieder. Sie verlangten eine Erhöhung des Stundenlohns von 43 auf 50 Pfennige und die Herabsetzung der im Vergleich zu den übrigen Berliner Transportarbeitern überdurchschnittlich hohen Arbeitszeit von 12 Stunden (bei den Kutschern sogar 14 Stunden).
Doch mit aus Hamburg herbeigeholten Streikbrechern und unter starkem Polizeischutz (vier berittene Schutzleute pro Kohlenfuhre) versuchte die Firma, die sich im Besitz des Großindustriellen Hugo Stinnes befand, den Kohlendienst aufrecht zu erhalten. Der Chef, ein Herr Buschmeyer, war vorher Angestellter bei Stinnes.
Die Streikenden wehrten sich durch das Aufreißen des Straßenpflasters vor den Lagerplätzen und durch die Organisation eines stadtweiten Boykotts. Selbst das Moabiter Warenhaus (Ecke Turmstraße/Ottostraße) musste ein Plakat ins Fenster hängen, dass es die Streikbrecher weder mit Lebensmitteln noch mit Schlafdecken beliefere. Als die Polizei mehrere leer stehende Wohnungen für die Streikbrecher vermittelt hatte, wurden die Hausbesitzer durch die Streikenden gezwungen, alle Mietverträge wieder rückgängig zu machen.
Das rücksichtslose Vorgehen der Polizei und der von der Firma mit Waffen ausgerüsteten Streikbrecher empörte ganz Moabit. Als am 24. September, einem Samstag, in der Rostocker Straße ein Streikbrecher einen Streikposten durch Schüsse verletzte, kam es zum offenen Aufruhr. Die Kohlenwagen wurden gestürmt, Polizisten und Streikbrecher entwaffnet, aus den Fenstern wurden die Beamten mit Blumentöpfen, Flaschen und anderen Wurfgegenständen bombardiert.
Auch die Ärzte des Moabiter Krankenhauses solidarisierten sich mit den Streikenden: sie verweigerten der Polizei Auskunft über die Personalien der verletzten Arbeiter.
Das war kein kleiner Streik um irgendwelche nur wirtschaftliche Forderungen. Kupfer u. Co. sollte für Stinnes den Berliner Kohlenmarkt erobern. Deshalb intervenierte Stinnes persönlich und erreichte, dass die Zahl der eingesetzten Beamten von 300 auf 1.000 erhöht wurde. Durch Moabit wurde ein dichter Polizeikordon gezogen. Die Sickingen‑, Rostocker, Berlichingenstraße waren vollgepropft mit Blauen. Dasselbe Bild in der Wittstocker, Wiclef‑, in der Beusselstraße, in der Wald‑, Gotzkowsky- und Huttenstraße. Kriminalpolizei mischte sich in Arbeiterkleidung unter die Ansammlungen.
Die Arbeiter anderer Moabiter Betriebe schlossen sich dem Streik an. Am 26. September kam es zu einer Straßenschlacht zwischen der Polizei und den Arbeitern der Waffenfabrik Loewe in der Wiebestraße. Gegen 11 Uhr abends griffen auch die Arbeiter der AEG Huttenstraße, die um diese Zeit Schichtwechsel hatten, „in die Exzesse ein“ (Polizeibericht).
Um den Widerstand zu brechen, erteilte der persönlich erschienene Polizeipräsident von Jagow am 27. September Befehl, den Widerstand der Bevölkerung mit der Schusswaffe zu brechen. Zwei Arbeiter wurden daraufhin erschossen, 150 weitere verletzt. Nach zehn Tagen war der Aufstand niedergeschlagen. Hugo Stinnes stiftete der Polizei 10.000 Mark.
Zeichnung: London Illustrated News, 8. Oktober 1910