25. Juli 1872
Schon seit in Berlin Wohnungen vermietet werden, gibt es Proteste gegen zu hohe Mieten, schlechte Instandhaltung, gegen Ungeziefer, Schimmel, feuchte Wände und vielem mehr.
Natürlich waren die Wohnungen im 19. Jahrhundert um vieles schlechter als heute. Einer der ersten größeren Proteste dagegen gab es im Jahr 1872. Heute versteckt sich die Blumenstraße hinter den Zuckerbäckerbauten der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain. Früher aber war dies mal ein Vergnügungsviertel und eine arme Arbeitergegend. Es herrschte schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts große Wohnungsnot, die Industrialisierung zog zigtausende Menschen in das aufstrebende Berlin, doch der Wohnungsbau blieb hinter dem Bedarf zurück, Mieter hatten keinerlei Rechte. Im Normalfall drängte sich eine Familie in einer Einraum-Wohnung, das waren oft sieben, acht Menschen. Eigene Toiletten gab es nicht.
Wer keine Wohnung fand, zimmerte sich in den Baulücken oder auf Höfen aus ein paar Brettern wenigstens einen Unterstand gegen den Regen. Vor dem Kottbusser Tor oder dem heutigen Strausberger Platz entstanden auf diese Weise großflächige Brettersiedlungen, Slums, wie man sie heute aus Indien oder Südamerika kennt.
Aber auch den Mietern ging es nicht besser. Praktisch jedes Jahr wurden die Mieten erhöht und wer sie nicht zahlen konnte, flog sofort raus. Oft behielten die Hauseigentümer als Ersatz für die ausstehende Miete noch den Hausrat. So passierte es täglich, dass ganze Familien von einem Tag auf den anderen ohne jegliche Habe obdachlos wurden.
So ähnlich geschah es auch am 25. Juli 1872 dem Tischler Ferdinand Hartstock aus der Blumenstraße 52. Ohne Vorwarnung kündigte ihm der Vermieter, weil der einen neuen Mieter hatte, der mehr zahlen konnte. Noch am selben Tag standen die Möbel der Familie Harstock auf dem Gehweg vor dem Haus. Dem Eigentümer war nicht klar, was er damit auslöste.
Jeder der Mieter in der Gegend wusste, was das zu bedeuten hatte. Diesmal war das Fass voll: Immer mehr Menschen versammelten sich vor dem Haus der rausgeschmissenen Familie. Und auch Arbeiter aus den zahlreichen Friedrichshainer Fabriken kamen dazu, bis die Menge auf rund 2.000 Menschen angestiegen war. Sie riefen Parolen gegen den Mietwucher und protestierten gegen die Kündigung der verzweifelten Familie. Die Polizei rückte an und ließ durch die Feuerwehr die Möbel abtransportieren. Doch damit konnte sie die Lage nicht mehr beruhigen.
Immer mehr Bewohner aus der Gegend kamen dazu. Sie warfen die Scheiben der Wohnung des Vermieters ein, der im Nebenhaus wohnte, sie demonstrierten in den umliegenden Straßen und gegen Abend befanden sich um die 5.000 Menschen in der Blumenstraße. Als die Polizei mit Verstärkung eintraf, flogen aus den Kneipen Steine, die wenigen Dutzend Polizisten hatten kaum eine Chance. All der Frust der Armen wandelte sich nun in Gewalt. Mit Säbeln schlug die Polizei von Pferden aus auf die Aufrührer ein. Erst in der Nacht verebbten die Auseinandersetzungen. Doch damit war es nicht vorbei.
Am folgenden Tag wurde vom Magistrat der Stadt die Feuerwehr nach Friedrichshain beordert. Sie begann damit, die Barackensiedlungen abzureißen. Geplant war das schon länger, weil einige Tage später der Zar von Russland sowie der Kaiser von Wien nach Berlin kamen und sie sollten keine Slums zu Gesicht bekommen. Innerhalb weniger Stunden wurde die gesamte Barackenstadt südlich des heutigen Strausberger Platz zerstört, inklusive der wenigen Besitztümer der Bewohner. Das ließ die Wut der Bürger natürlich explodieren. Tausende verließen ihre Wohnungen oder die nahen Fabriken und sammelten sich rund um die Blumenstraße. Aus Rinnsteinen wurden Barrikaden errichtet, als mehrere hundert Polizisten eintrafen, empfing sie ein Regen von Steinen. Die Kämpfe gingen über Stunden und forderten zahlreiche Verletzte. Allerdings gab es nur 20 Festnahmen.
In der Nacht zum nächsten Tag ließ der Polizeipräsident Warnungen plakatieren, in denen er mit Waffengewalt drohte. Kaiser Wilhelm I. hatte zudem die Bereitstellung mehrerer Regimenter der preußischen Armee angeordnet, die notfalls mit scharfer Munition gegen die Protestierer vorgehen sollten.
Aufgrund der starken Repression verebbten die Blumenstraßenkrawalle, dafür gab es an diesem Tag in der Skalitzer Straße in Kreuzberg neuen Aufruhr. Auch dort war gerade eine Wohnung zwangsgeräumt worden.
Mitten in der Nacht überfiel dann die Polizei die verbliebenen Barackensiedlungen und trieb die Bewohner hinaus. Die Fabriken hatten geschlossen, so dass von dort keine Hilfe kommen konnte. Innerhalb von Stunden zerstörte die Feuerwehr die letzten Behausungen, mehrere hundert Familien wurden obdachlos.