Mai-Krawalle

1987: Ausgebrannter Pkw an der Ecke Oranien- / Manteuffelstraße

1. Mai 1987

Gewalt am 1. Mai ist in Berlin die Norma­lität. Doch anders als der soge­nannte Blutmai von 1929, als insge­samt 33 Menschen bei Ausein­an­der­set­zungen zwischen linken Arbei­tern und der Polizei ums Leben kamen, sind die Mai-Krawalle seit den 1980er Jahren nur vorder­gründig poli­tisch. Kinder, Jugend­liche und junge Erwach­sene liefern sich Schar­mützel mit der Polizei, werfen Flaschen und Steine, bauen Barri­kaden und gehen dann irgend­wann nach Hause. Doch der Beginn dieser tradi­tio­nellen Mai-Fest­spiele war durchaus ernster Natur.

Schon seit den 1970er Jahren gab es am ersten Tag im Mai öffent­liche Feste. In Ost-Berlin ließ die Staats- und Partei­füh­rung das Volk an sich vorüber­ziehen, im Westen versuchten die Gewerk­schaften ihre Mitglieder zu mobi­li­sieren. Die neue entste­henden Stadt­teil-Initia­tiven aber machten den 1. Mai zum Festtag in den Kiezen. Bei fast zwangs­läufig gutem Wetter wurden in den Wohn­vier­teln in Char­lot­ten­burg, Schö­ne­berg, Moabit und auf dem Chamis­so­platz in Kreuz­berg die Tische raus­ge­stellt, Bühnen aufge­baut, Getränke und selbst geba­ckener Kuchen ausge­schenkt. Das Wort Feiertag bekam seinen Sinn. Kinder, alte Leute, die Alter­na­tiven, die Trin­ker­ju­gend, alle sammelten sich auf den Stra­ßen­festen und ließen es sich gutgehen. Ärger gab es regel­mäßig nur im Vikto­ria­park auf dem Kreuz­berg, wo die Polizei das Massen-Kiffen zu beenden versuchte.

Am 1. Mai 1987 fand wie jedes Jahr auch das Stra­ßen­fest am Lausitzer Platz statt. Rund um die Kirche war die Stim­mung auf dem Höhe­punkt, als einige hundert Meter weiter am U‑Bhf. Görlitzer Bahnhof ein paar Punks Flaschen auf Polizei-Mann­schafts­wagen warfen. Eine Situa­tion, die nicht wirk­lich bedroh­lich war, aber schwere Folgen hatte. Denn nach ihrer Aktion rannte die Gruppe ausein­ander, 10 bis 15 von ihnen liefen zum „Lause­platz“, die Polizei setzte hinterher. Die Punks verschwanden in der Menge. Anstatt sich nun zurück­zu­ziehen, reagierte die Polizei mit äußerster Härte: Die Besat­zungen mehrerer Mann­schafts­wagen rannten in voller Kampf­montur in das Fest, mit Knüp­peln schlugen sie sich den Weg frei. Es war, als wären alle Fest­be­su­cher zu Krimi­nellen erklärt worden, viele dachten auch an einen Angriff von Neonazis.

Die Polizei warf die Infor­ma­tions- und Ess-Stände um, riss etliche Feiernden zu Boden und droschen auf alle ein, die sich ihnen in den Weg stellten. Es herrschte Panik auf dem Platz, schrei­ende Kinder rannten umher, auf der Suche nach ihren Eltern. Zu diesem Zeit­punkt hielten sich ca. 2.000 Menschen auf dem Platz auf, zwischen den engen Markt­ständen und Büschen verloren nach einem Ausweg suchend.
Inner­halb einiger Minuten sammelte sich eine Gruppe von Leuten, die die Poli­zisten daran hinderte, sich weiter durch das Fest zu knüp­peln. Sie hielten sie an den Schilden und Knüp­peln fest, nahmen sie in die Zange und drängten sie hinaus. Da noch keine Verstär­kung kam, sprangen die Beamten in ihre Wannen und fuhren Rich­tung Kott­busser Tor ab.

Die Fest­be­su­cher versuchten sich klar­zu­ma­chen, was eigent­lich passiert war. Dieje­nigen, die mit einem eigenen Stand auf dem Fest waren, sammelten die Über­reste auf, fast alle Stände waren betroffen. In der Zwischen­zeit mobi­li­sierten die Auto­nomen aus den umlie­genden besetzten Häusern zum Lausitzer Platz. Und auch die Polizei schickte nun eine Hundert­schaft zum „Aufräumen“. Während die Opti­misten versuchten, das Fest nochmal zum Laufen zu bringen, prallten Polizei und Auto­nome auf der Skalitzer Straße zusammen. Die Polizei schoss Tränengas auf den Platz und räumte mit Wasser­wer­fern die Straße. Damit war nicht nur das Fest endgültig zerstört, auch die Eska­la­tion war nun vorge­zeichnet. Doch diesmal hatte es die Polizei nicht mehr nur mit den Krawall-erfah­renen Haus­be­set­zern zu tun, mit denen sie in den Vorjahren schon oft zusam­men­ge­stoßen war. Aufgrund ihres rück­sichts­losen Einsatzes sahen sie sich statt­dessen Hunderten von Bürgern gegen­über, Jugend­liche, einfache Arbeiter und auch viele alte Leute. Selbst viele erwach­sene Türken betei­ligten sich erst­mals an einer solchen Aktion. Bald war die Gruppe auf ca. 1.000 Menschen ange­wachsen und von allen Seiten kamen immer mehr dazu. Die Poli­zisten sahen sich plötz­lich einer Über­macht von Menschen gegen­über, die schrien und ihnen alle verfüg­baren Gegen­stände entge­gen­schleu­derten. Die Wut auf die Polizei war in diesem Moment riesen­groß, viele Betei­ligte waren später selber über ihr eigenes Handeln erschro­cken.

Seit es Anfang der 1980er Jahre zu vielen Haus­be­set­zungen und Stra­ßen­schlachten kam, war die Polizei immer mehr aufge­rüstet worden. Sie trat oft martia­lisch auf, um poten­zi­elle „Störer“ einzu­schüch­tern. Diesmal mussten die Beamten aber ihren Rückzug antreten. Sie versuchten sich am Mari­an­nen­platz zu sammeln, am Kott­busser Tor und am Orani­en­platz. Doch die Menge kam ihnen überall hinterher, sie trieb die Polizei aus dem gesamten Kiez heraus.
Das war nun die Stunde der orga­ni­sierten Auto­nomen. Mit Hilfe zahl­rei­cher Jugend­li­cher wurden sämt­liche Zufahrts­straßen gesperrt, zahl­reiche Autos, Bauwagen, Bauge­rüste, Müll- und Baucon­tainer versperrten die Straßen. Während die Menge die Barri­kaden immer mehr befes­tigte, wurden in den umlie­genden besetzten Häusern Molotow-Cock­tails gebaut. Die Polizei versuchte immer wieder mal, mit Hilfe von Wasser­wer­fern die Barri­kaden zu durch­bre­chen. Poli­zisten zu Fuß wurden nicht mehr einge­setzt, weil nun massiv die Mollies geworfen wurden, Mili­tante versuchten gezielt, Poli­zei­wagen in Brand zu stecken. Überall wurden parkende Autos quer­ge­stellt und ange­zündet. Das Zentrum der Krawalle war jetzt rund um die Orani­en­straße.

Am Abend zog sich die Polizei dann komplett zurück. Zwischen Wasser­tor­platz und Moritz­platz im Westen und dem Schle­si­schen Tor im Osten war kein Poli­zei­wagen mehr zu sehen. Diese Situa­tion war merk­würdig; einer­seits die massiv aufge­la­dene Stim­mung, überall bren­nende Fahr­zeuge und Bauzäune, vermummte Auto­nome und mit Steinen über­säte Straßen – auf der anderen Seite aber kein „Feind“ mehr in Sicht.

Anstatt nun aber fried­lich diesen Sieg zu feiern, schlug der Mob weiter zu. Überall wurden jetzt Scheiben einge­worfen, zuerst nur bei den Super­märkten, dann auch bei den kleinen Einzel­han­dels­ge­schäften. In der Orani­en­straße und in den umlie­genden Blocks wurden fast alle Läden geplün­dert. In manchen Fällen stellten sich die Inhaber gegen die Angreifer, was ihnen aber nichts nützte. Die Plün­derer versuchten, alle Vorur­teile zu bestä­tigen: So war es vor allem der Alkohol, der aus dem Lebens­mit­tel­ge­schäften geholt wurde.

Im Laufe der Zeit betei­ligten sich aber auch viele „normale“ Menschen an den Plün­de­rungen. In den Super­märkten fand sich die Türken­mutter mit der Oma aus dem Hinter­haus wieder, beide waren eher auf den Käse scharf oder auf andere teurere Lebens­mittel. Junge Kerle liefen mit Zigarren im Mund durch die Straßen, Kinder besorgten sich Spiel­zeug, Fami­li­en­väter suchten sich ein neues Jacket. Es war wie ein Volks­fest, mit einer ausge­las­senen Stim­mung, denn man hatte es „denen“ mal gezeigt. Aber allen war auch klar, dass es noch nicht vorbei war.

Etwa gegen 2 Uhr morgens rückte die Polizei dann massiv an. Hunderte von Beamten über­rannten am Görlitzer Bahnhof und am Orani­en­platz die Barri­kaden, schlugen auf alle ein, die sich noch auf der Straße befanden. Da die meisten mitt­ler­weile betrunken herum­liefen, hatten die Poli­zisten leichtes Spiel. Sie rächten sich auf ihre Weise für die erlit­tene Schmach, die Erste-Hilfe-Station im Urban-Kran­ken­haus war bald so über­füllt, dass die Verletzten in andere Kran­ken­häuser weiter­ge­schickt werden mussten.

Noch in der Nacht begann die Polizei mit der Erstür­mung von Wohnungen und Häusern, es gab zig Razzien und Fest­nahmen. Vier bis fünf Tage lang war der Kiez dann förm­lich besetzt, am 16. Mai erhielt die Polizei die ersten Räum­panzer. Eine solche Nieder­lage wollte sie nicht noch einmal erleben.

Im Nach­hinein wurde der 1. Mai 1987 von links­ra­di­kaler Seite sehr verklärt: Die massen­hafte Betei­li­gung aus der Bevöl­ke­rung und der erzwun­gene Rückzug der Polizei prägte viele der damals Aktiven. Bald war vom „Revo­lu­tio­nären 1. Mai“ die Rede und fast jedes Mal kam es jahre­lang zu gewalt­tä­tigen Ausein­an­der­set­zungen.
Heute ist es den meisten wahr­schein­lich nicht klar, dass dieser 1. Mai deshalb gewalt­tätig wurde, weil sich die Bevöl­ke­rung mal erfolg­reich gegen einen brutalen Poli­zei­ein­satz gewehrt hat. Als letztes noch sicht­bares Relikt dieses Tages war noch viele Jahre die Ruine der ausge­brannten Bolle-Filiale am Görlitzer Bahnhof zu sehen.

Foto: Roeh­rensee – CC BY-SA 3.0