„Schaut auf diese Stadt…“

Ernst Reuter am 9. September 1948

9. September 1948

Rede des dama­ligen West-Berliner Ober­bür­ger­meis­ters Ernst Reuter zur Berlin-Blockade vor 300.000 Berli­ne­rInnen am zerstörten Reichs­tags­ge­bäude.

Lips­chitz hat das Wort geprägt, das in uns allen einen leben­digen Wider­hall gefunden hat; er hat gesagt: „Wir kommen wieder!“ Wir kommen wieder in den Ostsektor Berlins, wir kommen auch wieder in die Ostzone Deutsch­lands!

Heute ist der Tag, an dem nicht Diplo­maten und Gene­rale reden und verhan­deln. Heute ist der Tag, wo das Volk von Berlin seine Stimme erhebt. Dieses Volk von Berlin ruft heute die ganze Welt. Denn wir wissen, worum es heute geht bei den Verhand­lungen im Kontroll­rats­ge­bäude in der Pots­damer Straße, die jetzt zum Still­stand gekommen sind, bei den Verhand­lungen später in Moskau in den stei­nernen Palästen des Kreml. Bei all diesen Verhand­lungen wird über unser Schicksal hier gewür­felt. Als vor Wochen diese Verhand­lungen anfingen, da war der Appetit des russi­schen Bären größer als nur [auf] Berlin. Er wollte, dass verhan­delt werden sollte auch über ganz Deutsch­land, und mit der lügen­haften Parole, man müsse die Spal­tung Deutsch­lands verhin­dern, verschlei­erte er nur für andere, nicht für uns, seinen Appetit auf den anderen Teil Deutsch­lands, den er auch noch in seine Hände bekommen will.

Jetzt sind die Verhand­lungen zu Berlin zurück­ge­kehrt. Die Gene­rale sind zu einem Still­stand gekommen. Wir leben in einer Pause. In dieser Pause glauben wir, dass es gut ist, wenn die Welt sieht, was das Volk von Berlin wirk­lich will. Morgen, über­morgen wird man verhan­deln über die italie­ni­schen Kolo­nien. Ich weiß nicht, worüber man dann noch verhan­deln will. Wir wollen nur eines klar sagen: In all diesem Handeln und Verhan­deln wollen wir Berliner kein Tausch­ob­jekt sein!

Uns kann man nicht eintau­schen, uns kann man nicht verhan­deln, und uns kann man auch nicht verkaufen. Es ist unmög­lich, auf dem Rücken eines solchen tapferen, stand­haften Volkes ein faulen Kompro­miss zu schließen. Gewiss, Kompro­misse sind der Inhalt jeder leben­digen Politik, aber Kompro­misse müssen echte und ehrliche Kompro­misse sein. Sie dürfen nicht so geschlossen werden, wie jene tele­fo­ni­schen Verein­ba­rungen in der Nacht zwischen dem fran­zö­si­schen General und dem russi­schen General, wo der russi­sche General sein Ehren­wort bricht.
Ehe der Hahn dreimal gekräht hatte, war das Ehren­wort Schall und Rauch, und anstän­dige, brave, ehrliche Berliner, Freunde von uns, wurden in Weiß­gar­disten und schwarze Garde verwan­delt.

Wir möchten der SED nur einen Rat geben: Wenn sie ein neues Symbol braucht, bitte, nicht den Druck der Hände, sondern die Hand­schellen, die sie den Berli­nern anlegten.
Die Hand­schellen, die sind in Wirk­lich­keit das Symbol dieser erbärm­li­chen Kümmer­linge, die für dreißig Silber­linge sich selbst und ihr Volk an eine fremde Macht verkaufen wollen.

Wenn heute dieses Volk von Berlin zu Hundert­tau­senden hier aufsteht, dann wissen wir, die ganze Welt sieht dieses Berlin. Denn verhan­deln können hier schon nicht mehr die Gene­rale, verhan­deln können schon nicht mehr die Kabi­nette. Hinter diesen poli­ti­schen Taten steht der Wille freier Völker, die erkannt haben, dass hier in dieser Stadt ein Boll­werk, ein Vorposten der Frei­heit aufge­richtet ist, den niemand unge­straft preis­geben kann.

Wer diese Stadt, wer dieses Volk von Berlin preis­geben würde, der würde eine Welt preis­geben, noch mehr, er würde sich selber preis­geben, und er würde nicht nur dieses Volk von Berlin preis­geben in den West­sek­toren und im Ostsektor Berlins. Nein, wir wissen auch, wenn sie nur könnten, heute stünde das Volk von Leipzig, von Halle, von Chem­nitz, von Dresden, von all den Städten der Ostzone, so wie wir auf ihren Plätzen und würde unserer Stimme lauschen.

Und ich weiß es zutiefst, ich denke an meine alte Stadt Magde­burg, die mich zum Reichs­tags­ab­ge­ord­neten wählte und deren Ober­bür­ger­meister ich war, ehe Hitler uns in die Konzen­tra­ti­ons­lager steckte. Dieses Volk würde genau so wie damals zu Zehn­tau­senden zu unseren Fahnen, zu den Fahnen der Frei­heit eilen und sich mit uns und den Völkern der Welt zu einem großen, unzer­stör­baren Bunde verei­nigen.

Wenn wir darum heute in dieser Stunde die Welt rufen, so tun wir es, weil wir wissen, dass die Kraft unseres Volkes der Boden ist, auf dem wir groß geworden sind und größer und stärker werden, bis die Macht der Fins­ternis zerbro­chen und zerschlagen sein wird. Und diesen Tag werden wir an dieser. Stelle, vor unserem alten Reichstag mit seiner stolzen Inschrift „Dem Deut­schen Volke“, erleben und werden ihn feiern mit dem stolzen Bewusst­sein, dass wir ihn in Kümmer­nissen und Nöten, in Mühsal und Elend, aber mit stand­hafter Ausdauer herbei­ge­führt haben. Wenn dieser Tag zu uns kommen wird, der Tag des Sieges, der Tag der Frei­heit, an dem die Welt erkennen wird, dass dieses deut­sche Volk neu geworden, neu gewan­delt und neu gewachsen, ein freies, mündiges, stolzes, seines Wertes und seiner Kraft bewusstes Volk geworden ist, das im Bunde glei­cher und freier Völker das Recht hat, sein Wort mitzu­spre­chen, dann werden unsere Züge wieder fahren nicht nur nach Helm­stedt, sie werden fahren nach München, nach Frank­furt, Dresden, Leipzig, sie werden fahren nach Breslau und nach Stettin.

Und sie werden auf unseren kümmer­li­chen, elenden, zertrüm­merten, alten, ruinierten Bahn­höfen wieder die zweiten Gleise aufmon­tieren, die das Symbol unserer wieder­ge­won­nenen Frei­heit sein werden, die wir uns, Berli­ne­rinnen und Berliner, in den Kämpfen, die hinter uns liegen, und in den Nöten, die vor uns liegen, erkämpfen müssen und erkämpfen werden.

Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frank­reich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preis­geben dürft und nicht preis­geben könnt! Es gibt nur eine Möglich­keit für uns alle: gemeinsam so lange zusam­men­zu­stehen, bis dieser Kampf gewonnen, bis dieser Kampf endlich durch den Sieg über die Feinde, durch den Sieg über die Macht der Fins­ternis besie­gelt ist.

Das Volk von Berlin hat gespro­chen. Wir haben unsere Pflicht getan, und wir werden unsere Pflicht weiter tun. Völker der Welt! Tut auch ihr eure Pflicht und helft uns in der Zeit, die vor uns steht, nicht nur mit dem Dröhnen eurer Flug­zeuge, nicht nur mit den Trans­port­mög­lich­keiten, die ihr hierher schafft, sondern mit dem stand­haften und unzer­stör­baren Einstehen für die gemein­samen Ideale, die allein unsere Zukunft und die auch allein eure Zukunft sichern können. Völker der Welt, schaut auf Berlin! Und Volk von Berlin, sei dessen gewiss, diesen Kampf, den wollen, diesen Kampf, den werden wir gewinnen!